Autorin: Lena-Marie Hoppe
Crafting meets Coding
Wenn Stricken und Programmieren im selben Satz erwähnt werden, dann meist zur Verbildlichung von Gegensätzen: Tradition trifft auf Moderne, analog trifft auf digital, belächelnswertes DIY-Hobby trifft auf zukunftsorientierten Skill. Es mag widersprüchlich erscheinen, doch die Jahrhunderte alte Handarbeitstechnik und Programmiersprachen haben mehr gemein, als es auf den ersten Blick vermuten lässt. Jemand sitzt stundenlang vor unzähligen Zeilen mit kryptisch anmutenden Kürzeln, oft bis tief in die Nacht hinein und an einem bestimmten Punkt stellt sich das Gefühl ein, die Arbeit einfach nur noch in die Ecke pfeffern zu wollen. Dieses Gefühl kennen sowohl Programmierer:innen als auch Strickende.
Die binäre Basis
So groß wie die Vielfalt an Programmiersprachen ist, so groß ist auch die Vielfalt an Stricktechniken und Mustern – wahrscheinlich sogar größer. Beiden ist jedoch gemein, dass sie sich jeweils auf zwei Grundbausteine zurückführen lassen: Einsen und Nullen bzw. rechte und linke Maschen. An dieser Stelle soll kein Stricktutorial folgen, doch die grundlegenden Strickbegriffe sollten für ein besseres Verständnis bekannt sein.
Strickarbeiten können in Reihen oder Runden angefertigt werden. Die Strickrichtung verläuft dabei von rechts nach links. Eine Reihe oder Runde besteht aus Maschen, die während der Arbeit auf der Stricknadel liegen. Rechte Maschen bilden oft die Vorderseite des Gestricks und sehen aus wie „V“s. Sie bilden eine glatte Oberfläche. Linke Maschen erzeugen dagegen kleine Knötchen, wenn sie einzeln auftauchen, bzw. eine Wellenstruktur in der Fläche.
Außer rechten und linken Maschen gibt es noch viele weitere Techniken, etwa Ab- und Zunahmen, um das Gestrick zu formen oder dekorative Elemente wie Zöpfe, Umschläge oder tiefer gestochene Maschen. Sie alle beruhen jedoch auf den rechten und linken Maschen, mit denen sich komplette Strickstücke inklusive komplexer Strukturmuster stricken lassen.
Genau dieses Strukturmuster mit binärer Basis sind es, die das Stricken zum perfekten Nachrichtenmedium gemacht haben, lange bevor es ausgefeilte digitale Chiffrier- und Dechriffiertechnologien gab. Selbstverständlich war der Wollpullover mit Noppenmuster nicht der Vorläufer der E-Mail. Besonders in Kriegszeiten hat das Stricken jedoch eine wichtige Rolle beim verschlüsselten Sammeln und Weitergeben von Informationen gespielt.
Steganografie: gestrickte Geheimbotschaften
Eine ältere Dame sitzt am Fenster und strickt. Von ihrem Platz hat sie einen guten Blick auf die Züge, die nicht weit von ihrem Haus entfernt vorbeifahren. Eigentlich eine idyllische Vorstellung, wenn es sich dabei nicht um Kriegsgerät der deutschen Besatzer und eine französische Spionin während des Ersten Weltkrieges handeln würde. Als Spion gilt es unauffällig zu sein, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch das Stricken ist nicht nur Teil der Tarnung. Die Strickware selbst kann zur geheimen Botschaft werden, indem ein Code in die Maschen eingebaut wird. Diese Form der Steganografie, die verborgene Übermittlung von Informationen, kam sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg zum Einsatz.
„Drop one for a troup train, purl one for an artillery train“ – so lautet es in der BBC-Dokumentation MI6: A Century in the Shadows, also eine Masche fallen lassen für einen Truppenzug, eine linke Masche stricken für einen Artilleriezug. Man kann davon ausgehen, dass statt „drop one“ hier eher ein Umschlag gemeint ist, der zwar ein Loch erzeugt, aber das Gestrick nicht weiter auflöst. Den Militärhistorikern sei an dieser Stelle ihre Strickunkenntnis verziehen. Wie gut, dass die richtige Spionagearbeit den älteren Damen überlassen wurde …
Eine noch naheliegendere Form der Informationsübermittlung mittels Gestrick ist der Einbau von Morsebotschaften. Die erhabene Struktur der linken Maschen ist ideal, um mit ihnen Strich- und Punktkombinationen nachzubilden. Für das ungeübte Auge wirken sie dabei lediglich wie ein Strukturmuster, besonders, wenn der eigentliche Code durch andere Musterelemente kaschiert wird.
Es ist jedoch nicht nur das Gestrick an sich, das als steganografisches Medium genutzt werden kann. Der Mix aus Kürzeln und Ziffern bietet sich gerade dafür an, verschlüsselte Informationen darin zu verstecken. Aus diesem Grund haben sowohl die USA (im Zweiten Weltkrieg) als auch Großbritannien (im Ersten Weltkrieg) den Auslandsversand von Strickanleitungen verboten. Die durch Abkürzungen bestimmte Form von Strickanleitungen lassen sie für Außenstehende nahezu unverständlich wirken – ganz so wie Programmcode …